Mme Butterfly auf der Bregenzer Seebühne

einige begeisterte und einige enttäuschte Eindrücke

von Vassil Svechtarov

Am Sonntag war ich mit meiner bezaubernden Frau in der Oper. Nicht irgendwo, sondern auf der Bregenzer Seebühne. Umwerfend, welch eine majestätische Kulisse das Wasser, die im Grau der Ferne liegenden Hügel und die Lichtspiele der müden Sonne bieten. Leider wurden diese fast vollständig vom wuchtigen Bühnenbild des bevorstehenden Specktakels verdeckt. Ein gigantisches Blatt Papier sollte es darstellen, mit zarter japanischer Tuschemalerei versehen und durch die suggeriert-lässige Faltung vermutlich an den schicksalsträchtigen, dramaturgisch entscheidenden Brief des Pinkerton an den amerikanischen Konsul Sharpless, in dem der Offizier über das Leben und Glück der Madame Butterfly entscheidet, angelehnt. Oder aber ist es der Vertrag, mit dem der Amerikaner Pinkerton im japanischen Nagasaki ein Haus samt lebendem Inhalt – ein fünfzehnjähriges Geisha – Mädchen, kauft? Ist es vielleicht ein Blatt der Zeitung, aus der später der dreijährige Sohn des Pinkerton und der inzwischen achtzehnjährigen Cio-Cio-San, genannt Mme Butterfly, ein Bötchen gefaltet hat? Die Antwort wird der Zuschauer selbst herausfinden müssen, aber ich denke mir: welch ein starker Einfall – Papier! Das Material ist, wie kaum woanders auf der Welt, mit der jahrtausendealten Tradition des Landes verbunden. Von den Hunderten von filigranen Origami-Figuren bis hin zum Bau von ganzen Wänden wird es benutzt und gibt Japan auch sonst durch Schirme, Fächer, Lampen, Drachen, Schriftzüge, Malerei und keiner-weiß-was-alles sein so unnachahmliches, ästhetisches Erscheinungsbild. Da kann man, denke ich mir, als Regisseur und Bühnenbildner alles, wahrhaftig alles, vor den Augen des Publikums entstehen und fließend verändern lassen – ohne Stilbruch, ohne Nähte mit weißem Faden im Bezug auf Materialwahl, ohne Butaphorie.

Ja, das denke ich mir voller Vorfreude, in diesem grandiosen „Opernsaal“mit rund siebentausend Zuschauerplätzen unter dem freien Himmel sitzend, in heller Aufregung und stiller Bewunderung, weil Bregenz, eine Stadt mit fünfundzwanzigtausend Einwohnern insgesamt zwölftausend Zuschauerplätze für Kulturinteressierte zu bieten hat!

Aber zurück zu Madame Butterfly aus Nagasaki. Die dreiteilige Oper wurde von Puccini um die Jahrhundertwende komponiert und in dieser Fassung 1904 uraufgeführt. Ich maße mir nicht an, auch nur ein Wort über die musikalische Qualität der Bregenzer Interpretation äußern zu dürfen. Als einfacher Zuschauer wurde ich meisterhaft mit Klängen verzaubert, dessen Wiedergabe unterm freien Himmel, mit einem Orchester weit weg – in einem Raum unter dem Amphitheater sitzend, mit einem Dirigenten, der für die Sänger nur auf Monitoren zu sehen ist, technisch schier an Wunder grenzt. Wenn ein Sänger auf der Bühne den Mund aufmacht um zu singen, wird man von der Tonwiedergabe so meisterhaft getäuscht, dass man auch dahin guckt, wo Er oder Sie wirklich steht und singt, obwohl man in Wirklichkeit alle Töne nur von vermutlich hunderten von Lautsprechern hört und nicht vom Mund der Sänger. Hut ab! Hut ab, weil man nicht darüber nachdenkt, während man dort sitzt und der hundertzwanzig Jahre alten Oper lauscht. Dort, auf der Seebühne, passiert es einfach und natürlich – die Illusion ist perfekt. Erst später fragt man sich vielleicht, wie das alles möglich war.

Wie ich mich später auch gefragt habe, was sich Regisseur und Bühnenbildner wohl gedacht haben mögen. Wohl gemerkt – ich kenne die Namen dieser Menschen nicht, und ich weiß nicht, was sie vorher gemacht haben, und welche Referenzen ihnen dazu verholfen haben, ein solches Projekt umsetzen zu dürfen. Hier schreibe ich meine Meinung nieder, meinen Unmut darüber, ein Theaterstück, eine Operninszenierung gesehen zu haben, dessen Macher über scheinbar grenzenlose Möglichkeiten verfügt haben, sie aber einfach in die Luft geschossen haben.

War es dem Regisseur nicht bekannt, dass die zweite Atombombe von den Amerikanern ausgerechnet auf Nagasaki geworfen wurde? Oder ist das phallische Symbol des teleskopisch wachsenden Schiffsmastes durch das hässliche Loch im „Papierblatt“ ein Symbol für die Penetration der jungfräulichen japanischen Kultur durch den plumpen amerikanischen Einfluss? Ist vielleicht das zweite Loch ein Symbol für zwei Liebesakte zwischen Cio-Cio-San und Pinkerton oder lediglich ein Ausdruck der Unfähigkeit des Bühnenbildners, einen vernünftigen Aufgang in der Mitte der eigens-entworfenen Bühnenbilds zu gewähren? Ist es wirklich gewollt, dass eins der Schlüsselsymbole, das angeschwollene und gewachsene Papierboot, der lang ersehnte Traum von Mme Butterfly, nur von einem Viertel des Publikums gesehen werden darf. Oder hat man vielleicht erst nach der Herstellung „gesehen“, dass es hässlich und grenzenlos eklektisch erscheint und wollte es deshalb nicht ganz zeigen? Und überhaupt, wer sollte damit und wohin gerettet werden? Sollte damit nicht bloß Pinkerton eintreffen? Nein, stattdessen musste er den schicken o.g. Loch-Aufgang nutzen um den Pegel der Verwirrung des Publikums aufrecht zu erhalten. In dieser Kategorie gehört auch folgende Szene: Pinkerton kommt an. Er hat keine Ahnung, dass er ein Kind hat, holt aber aus seinem Seesack mit sicherer Geste einen Ball als Geschenk für den Kleinen hervor. Wirklich? Da wäre ein Baseballhandschuh amerikanischer! Hätte er nicht, ehrlos wie er ist und in dem Kontext des dramaturgischen Verlaufs, einfach seine Offiziersmütze verschenken können? Und, wie passen stilistisch das Papierboot und der ankommende Dampfer zusammen? Wie passen stilistisch die zarten Tuschezeichnungen mit den kitschigen, animierten Kirschblüten oder die Trage des reichen Yamadori, welche wie aus einem Stummfilm ausgeliehen anmutete, zusammen? Wofür standen die drei auffälligen Primärfarben der Kostüme der Amerikaner? Mit der symbolischen Deutung der Farben könnte es nicht zusammenhängen – womit dann?

Und, wo blieb das Papier? Könnte es nicht so aussehen: Die beweglichen Wände,welche „Ohren haben“ z.B. – lauschende Verwandte, die vor sich ihre großen Fächern im passender Formation halten? Papier-Schmetterlinge in den Händen der Geishas – ein Mobile der Götter – oder glaubte einer , dass das Schicksal von Cio-Cio-San ein Einzelfall war? In den Händen der Geister – aus Papier gefaltete Heißluftballons, welche empor fliegen und die innigsten Wünsche zu den Göttern bringen sollen? Der Chor, statt sinnlos umherirrend – eingespannt ins Geschehen? Hier hätte ich noch dutzend Fragen… Ja, wo blieb die Fantasie und erhoffte stilistische Einheit? Das Papier, das alles versprechende Material, die Grundlage des Regiekonzepts – man wusste es, zugegeben sehr effektvoll, nur zu verbrennen!

Aber damit bin ich schon bei der Lichttechnik, welche in dem Maße ihres Aufwandes und ihrer Perfektion der Umsetzung, ihres Gleichen sucht. Vermutlich gilt das auch für den finanziellen Aspekt der gesamten Produktion. All das möglicherweise nur mit der Anzahl verpatzter Möglichkeiten seitens der Regie zu messen.

Zu wessen Kosten? Und damit meine ich nicht die Honorare und den enormen Aufwand zur Erstellung der Inszenierung. Damit meine ich die verpfuschte Chance, die Emotionen der Zuschauer zu berühren. Eine wahrhaftig tiefgreifende Tragödie lediglich als eine Parade großartiger Effekte dahinplätschern zu lassen!